„Opa, warum rufst du jeden Tag deine eigene Nummer an?“

Ich war vielleicht acht Jahre alt, als ich es zum ersten Mal bemerkte. Jeden Morgen, kurz nach dem Frühstück, setzte sich Opa in seinen alten Sessel, nahm den Hörer des grauen Telefons in die Hand und wählte – seine eigene Nummer.

Er ließ es ein paar Mal klingeln, lauschte still, und legte dann ganz behutsam wieder auf. Ich fand das seltsam. Ein bisschen traurig, ein bisschen geheimnisvoll. Eines Tages konnte ich nicht länger still sein.

„Opa, warum machst du das?“, fragte ich leise.

Er sah mich an, mit einem Lächeln, das irgendwo zwischen Gegenwart und Vergangenheit hing.
„Weißt du, mein Junge“, sagte er,

„als deine Oma noch lebte, hat sie mich jeden Morgen um diese Zeit angerufen. Nur kurz. Manchmal hat sie gar nichts Besonderes gesagt. Aber ich wusste dann, dass sie da ist. Dass sie an mich denkt.“

Er blickte zum Fenster hinaus, wo das Licht durch die Gardinen fiel. „Und jetzt… na ja, jetzt weiß ich, dass niemand mehr anruft. Aber wenn ich die Nummer wähle, dann fühlt es sich an, als würde ich wieder auf sie warten. Nur für einen kleinen Moment.“

Ich hatte keine Antwort. Ich konnte nur nicken.

Am nächsten Tag, genau um dieselbe Uhrzeit, nahm ich mein eigenes kleines Handy und tippte zögerlich die Nummer des Hauses ein. Das Telefon im Wohnzimmer klingelte.

Ich hörte, wie Opa sich bewegte, der Sessel knarrte, dann das Geräusch, wie er den Hörer abnahm. Seine Stimme klang überrascht. „Hallo?“

Ich atmete tief ein und sagte ganz vorsichtig: „Hallo, Opa… ich wollte dir nur sagen, dass jemand gerade an dich denkt.“

Am anderen Ende blieb es still. Dann hörte ich ein leises Schluchzen. „Danke, mein lieber Junge“, flüsterte er. „Das ist der schönste Anruf seit langer Zeit.“

Seit diesem Tag riefen wir uns jeden Morgen an. Manchmal reden wir nur über das Wetter oder was es zum Frühstück gibt.

Aber jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, wußte ich, dass da jemand ist, der mich liebt und den ich lieben darf.

Mittlerweile lebt mein Großvater nicht mehr, aber die Erinnerung an ihn, bleibt für mich unvergesslich.

Liebe hört nicht einfach auf, wenn jemand geht. Manchmal ändert sie nur ihre Stimme. Und manchmal reicht ein einziger Anruf, um sie wieder hörbar zu machen.

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Avatar von Dana Stella Schuhr

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