Das Gelb der Ampel stach mir in die Pupillen, ehe sie auf Rot umschlug. Zwanzig Sekunden vor meinem Ziel. „Mist!“, schrie ich innerlich und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad, weil eine halbe Minute Wartezeit in keinem Verhältnis dazu stand, nur noch nach links abbiegen und auf den Parkplatz des kleinen Supermarkts fahren zu müssen.
Ich hatte es eilig, war spät dran und hatte mir deshalb eine Strategie zurechtgelegt: Rein in den Laden und dann gezielt die relevanten Regale ansteuern, sich nicht ablenken und zum Zugreifen auf mehr als die benötigten Waren verleiten lassen. An der Kasse bar bezahlen, weil das am schnellsten ging, raus aus dem Laden und ab nach Hause, bevor der Feierabend Verkehr einsetzte und sich an den Ampeln Schlangen bildeten. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit, ist die Hölle los.
Die halbe Minute, die ich auf der Abbiegerspur hinter einem Peugeot zu warten hatte, schien sich endlos hinzuziehen. Das gleichmäßige Ein-Aus seines Blinkers nervte mich und steigerte meine Ungeduld. Doch allmählich wurde das Blinken kleiner, halbierte sich und drohte, meinem Sichtfeld zu entschwinden. Ich hupte. Erst kurz, dann nochmal etwas länger.
Der Blinker tauchte in vollem Umfang wieder auf. Aber im nächsten Moment wurde er abermals weniger. Dieses Mal hupte ich energischer. Der Fahrer vor mir sprang aus seinem Wagen und eilte auf mich zu. An meinem offenen Fenster beugte er sich runter, so dass er mich sehen konnte, und brüllte mich an:

„Sind Sie noch richtig im Kopf? Sie sehen doch, dass die Ampel rot ist!“
„Schauen Sie mal, wo Ihr Auto steht“,
gab ich trocken zurück, lachte aber dabei, um zu signalisieren, dass ich nicht auf Aggression gebürstet war. Er guckte verdutzt, und erst jetzt wurde ihm gewahr, dass die Stoßstange seines Peugeot in einer geradezu entzückenden Knutscherei mit der Stoßstange meines kleinen Opel verbandelt war.
Weil dieser Prototyp einer Schlafmütze kein Wort mehr herausbrachte, fügte ich noch trockener hinzu: „Gelb!“ Er rannte zu seiner offenen Wagentür, sprang in den Peugeot und brauste nach links um die Ecke.
Während ich ihm auf den Parkplatz folgte, schüttelte ich den Kopf: „Idiotisch.“ Mir war unbegreiflich, wieso dieser Kerl mein erstes Hupen richtig verstanden zu haben schien und seinen zurück- rollenden Wagen wieder ein Stück nach vorn bugsierte, ihn dann aber wieder zurückrollen ließ.
Merkwürdig, dass er nicht einmal bemerkt hatte, wie unsere Stoßstangen aufeinander stießen. Wie er auf die Idee kommen konnte, ich hätte ihn mit meinem Hupen zum Losfahren bei Rot auffordern wollen. Ich zuckte die Schultern und wählte einen Platz nahe des Eingangs zum Supermarkt.
Nachdem ich geparkt hatte, dachte ich über den Vorfall nicht länger nach. Ich hatte meinen Einkauf zu erledigen, und wie man unsinnigerweise sagt, wenn man dies in einer begrenzten Zeit zu tun hat, läuft sie einem davon.

Doch am Gemüsestand stieß ich wieder unvermittelt auf die Schlafmütze und schaffte es nicht, ein Frotzeln zu unterdrücken: „Wie frisch verliebt ist man, um der Welt derart entrückt zu sein?“
Ein Fehler, wie ich sogleich zu spüren bekam. Die Schlafmütze sah mich entgeistert an, ohne ein Wort zu sagen. Ob der Mann genetisch vom Schöpfer aus dem Humor-Programm gestrichen worden war oder ob er noch an der Peinlichkeit nagte, vor den Augen einer Frau eine Verkehrssituation falsch gedeutet zu haben, versuchte ich nicht, herauszufinden.
Schließlich saß mir ja die Zeit mit der Peitsche im Nacken. Ich ließ den Kerl stehen und schritt mit meinen Waren im Caddy schnurstracks zur Kasse.
Und von jetzt an lief alles wie geschmiert: grüne, Schlafmützen freie Welle bei moderatem Verkehrsaufkommen. Erledigungszeit: zwanzig Minuten.
Aber die beiden Stoßstangen, die so innig aufeinander trafen, die ich nie zu sehen und kaum durch eine kleine Erschütterung zu spüren bekommen hatte, beschäftigten mich noch lange:
Wären sie nicht der ideale Aufhänger für eine romantische Liebes-Geschichte? Auf Timing und Effizienz gedrillte Frau trifft auf weltentrückten Träumer.
Zwei Menschen sehen die gleiche Welt, in der sie leben, völlig unterschiedlich. Bewegen sich anders in ihr, definieren ihre Erscheinungen unterschiedlich, kommen zu unterschiedlichen Entscheidungen, leiden und freuen sich individuell an ihr, verabscheuen oder idealisieren sie, kommen jeder für sich mit ihr zurecht oder verzweifeln an ihr, arbeiten sich an ihr ab oder kehren ihr den Rücken zu.
Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, sich mit der Welt und dem Leben in ihr auseinanderzusetzen. Zwei Stoßstangen. Ich, eine Frau mit einem Uhrenherz, und eine Schlafmütze, die ihrem Umfeld fern zu sein scheint. Eine solche Begegnung kann ein ganzes Tor aufstoßen. Was ist spannender als zwei Welten, die mit gegensätzlichen Philosophien aufeinanderprallen?
Wofür entscheiden sie sich: Krieg und Vernichtung? Oder Evolution und Hochkultur? Ich setzte mich an meinen Computer und fragte ihn:
„Gemini, bist du bereit?“ Er antwortete mir: „Was hast du mir zu bieten?“ „Eine neue Geschichte.“ „Worüber?“
„Ein Mann trifft eine Frau.“
„Ah, eine Liebesgeschichte. Das älteste Thema der Menschheit. Was an deiner ist neu?“ „Dass sie mit dem Aufeinandertreffen von Blech beginnt.“
„Das ist wirklich neu. Bis jetzt hatte das zusammen-Treffen von Blech zu Blech den Tod zur Folge. Oder Verletzungen bis zur Verstümmelung. Fälle für Bestatter und Versicherungen. Dann braucht die Handlung einen Rächer oder einen Kämpfer für Gerechtigkeit, wenn es eine Geschichte werden soll.“
„Das ist sehr nüchtern betrachtet.“ „Statistisch ausgewertet.“
„Aber wenn es auch mal anders sein könnte? Ein Anfang? Ohne Tod und Verletzung. Der Beginn einer Liebe. Soll ich?“
„Du willst schreiben. Und du glaubst an deine Idee?“
Ich nickte. „Lege los!“
Ich begann zu schreiben, und anfangs war Gemini mir ein treuer, geduldiger Begleiter. Als Aufhänger diente mir die Szene an der Ampel, als der Wagen vor mir auf meinen zurückrollte.
„‚Nicht schlecht“, sagte Gemini, der jeden meiner Sätze zwischen den Tasten zerrieb und auf seine Glaubwürdigkeit prüfte, manches an Wortwahl oder Ausdruck aber auch dick unterstrich: Wirklich???
Natürlich war ich darauf erpicht, mein Liebespaar zusammen kommen und glücklich werden zu lassen. Doch als ich weiter vorankam, begann Gemini, gegen mich zu arbeiten. Dann verengte er die Tastatur, so dass ich oft daneben tippte oder zwei Zeichen gleich-zeitig traf, jedenfalls kam nichts mehr dabei rum.
Er wollte mich aus dem Flow bringen, mich wach-rütteln und für ihn wieder ansprechbar machen. „Du trinkst zu viel“, hielt er mir vor, „da sieht man die Realität nicht mehr. Kein Paar auf dieser Welt ist nach sechs Monaten noch verliebt, und kein Paar glaubt nach einem Jahr noch an die große Liebe.
Du bleibst bei deiner Geschichte in der Verliebtheits-phase stecken. Wo sind die Konflikte, die nach dieser Phase kommen? Wo sind die Bewährungsproben, die dein Liebespaar zusammen schweißen? Wer von deinen Lesern, glaubst du, will vierhundert Seiten lang nur von Techtelmechtel und liebevollem Schnäbeln lesen?“
Ich trank trotzdem weiter, und oft fauchte ich Gemini an: „Geh zum Teufel! Meine beiden werden glücklich, egal, wie.“ Wir lagen ständig im Clinch, erlebten somit Schaffens- Phasen, Stillstand, Zweifel und meterhohe Wellen der Emotionen, die uns zu ertränken drohten.
Zwischendurch, wenn ich ins Stocken geriet, ließ ich mir von Chat GPT auf die Sprünge helfen, aber Gemini war selbst intelligent und fuhr mir in die Parade: „Du hast beschissen!“
Ich versuchte nicht, den Betrug abzustreiten. „Wie hast du das festgestellt?“
„Nicht dein Stil.“ „Das merkt doch kein Leser.“ „Ich habe es gemerkt. Und ich bin dein erster Leser.“ Gemini blieb hart. „Die Passage ist gestrichen. Schreib sie neu. In deiner Sprache“.
So ging es hin und her. Doch eines Tages hatten wir es geschafft: Mein Liebespaar hatte Höhen und Tiefen gemeistert, von verspielter Liebelei durch stürmische Seen und vorbei an scharfen Klippen zur eisernen Liebe gefunden, und ich hatte sogar den Vertrag mit einem Verlag in der Tasche.
Als ich fertig war, fragte mich Gemini: „Und wie soll
deine Liebesgeschichte heißen?“ Ich dachte kurz nach. „Hm, Hartlackkuss mit kleinen Kratzern? Aber der Verlag sträubt sich noch dagegen.“
„Hat man dort einen besseren Titel?“ „Man sucht noch.“ „Zeit, schlafen zu gehen. Fahr mich runter.“ In Gemini’s Sprache hieß das: „Einverstanden. Alles in trockenen Tüchern.“ Der Titel stand.

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